"Bei staatstheoretischen Debatten aller Art hatte ich schon seit einiger Zeit zwei wesentliche Grundüberzeugungen vertreten. Erstens: Ich habe nichts gegen Sozialismus, solange nur die Teilnahme daran freiwillig bleibt. Und zweitens: Ich habe nichts gegen staatliche Planung, solange nur der Planende allwissend ist. Eines Tages allerdings bemerkte ich, daß meine Ansprüche an die Formulierung politischer Positionen gewachsen waren. So rückte ein drittes Kriterium in den Vordergrund. Es ist das Kriterium der Kohärenz." (Carlos A. Gebauer)
Kann ein demokratischer Staat seine Bürger erziehen, ohne dabei in Widerspruch zu seinen Prinzipien zu geraten?
Ein autoritärer Staat hat damit kein Problem. An seiner Spitze stehen eine oder mehrere Personen, deren Selbstverständnis es ist, bessere Menschen zu sein als ihre Untertanen.
Diese Personen haben entweder sowieso nicht das Ziel zum Wohle ihrer Untertanen zu handeln (was immer das auch sei), sondern verfolgen unverhohlen eigene Interessen. Oder sie gehen im anderen Fall schlicht davon aus, eben zu wissen, was gut für ihr Untertanen ist - besser als diese selbst.
Dieses Verständnis der Beziehung von Staat und Bürger vorausgesetzt ist es schlicht vernünftig, wenn der Staat - also jene intelligenteren, klügeren, moralischeren, kurz: überlegeneren Menschen - ihren Bürgern (dumm, verschlagen, unmoralisch) vorschreibt, wie sie zu leben haben; sie führt, anleitet, erzieht, bildet, ausbildet, versorgt, umsorgt, also regiert.
Der demokratische Staat aber weist jenes Verständnis weit von sich. "Nein," sagt er, "alle Menschen sind gleich. Jeder kann im selben Maße an der Bildung des Staates teilnehmen. Jeder kann in jede Position innerhalb der staatlichen Institution gelangen, wenn er nur gewählt wird. Kein Mensch," so spricht er, "ist besser in dem Sinne, dass er befähigt ist über andere Menschen zu herrschen, während diese nur die Rolle der Beherrschten einnehmen können."
Der demokratische Staat trägt vor sich her also das Bild des mündigen Bürgers, der "sich selbst regiert".
Wie kann solch ein Staat dann aber, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln, eine alltägliche Politik betreiben, in der ganz eindeutig zum Ausdruck kommt, dass er die Bürger eben nicht für mündig hält? Nicht für mündig genug, sich gesund zu ernähren, nur die richtigen Produkte zu kaufen, ihre Kinder zu erziehen, für ihre Zukunft und schlechte Zeiten vorzusorgen, Verträge abzuschließen, nur die richtigen Medien zu konsumieren, nicht die falsche Geschichte zu lernen, sich nicht ungewollt in verrauchte Räume zu setzen und unzähliges mehr.
Wie können Bürger sich selbst als mündig bezeichnen und noch mehr "demokratische Mitbestimmung" fordern, wenn sie im gleichen Atemzug nach immer mehr Entmündigung verlangen? Wie können diese Bürger behaupten, sie wären in der Lage über das Leben Millionen anderer Menschen mitzubestimmen, während die selben Bürger ständig darlegen, dass sie nicht einmal in der Lage sind mit ihrem eigenen Leben klarzukommen und in jeder Hinsicht Hilfe und Schutz "von oben" benötigen?
Was ist von der Idee zu halten, dass zwar jeder Bürger in der Lage ist, Personen auszuwählen, die in seinem Auftrag über außen- und innenpolitische Geschicke eines ganzen Volkes entscheiden sollen; dass die selben Bürger aber unfähig sind, ihre eigenen Kinder zu erziehen und zu bilden?
Welche Logik wenden Menschen an, die ohne mit der Wimper zu zucken an Wahlplakaten vorbeigehen, die mit Lügen und unmöglichen Versprechungen betextet sind und deren praktische Umsetzung das Leben tausender von Menschen beeinflusst, und die von der Fähigkeit ihrer Mitbürger überzeugt sind, sich darüber eine kompetente und informierte Meinung zu bilden und daraufhin eine ebensolche Wahlentscheidung zu treffen; die ihre Mitbürger aber für so dumm halten, dass Werbeverbote oder Vorschriften für kommerzielle Werbung notwendig erscheinen, weil sich anscheinend ansonsten diese Mitbürger völlig unvernünftig von allem und jedem zum Kauf von unnützen und gefährlichen Produkten verführen lassen?
Für Antworten auf diese Fragen wäre ich dankbar.
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